Developing perceptual expectations: An experimental test of predictive coding theory
Eine in den kognitiven Neurowissenschaften vieldiskutierte Frage ist, ob und wie stark Erwartungen unsere Wahrnehmung bestimmen. Bei grundlegenden visuellen Prozessen ist dieser Einfluss belegt: Zeigt man beispielsweise jedem Auge eines Beobachters gleichzeitig unterschiedliche Bilder, so nimmt er/sie wechselweise immer nur eines der beiden Bilder war. Der scheinbar zufällige Wechsel zwischen den Wahrnehmungen der beiden Bilder ist jedoch nicht so zufällig wie manchmal angenommen wird. Vielmehr unterliegen sie den Erwartungen des Beobachters.
Übereinstimmend mit früheren Untersuchungen konnten wir in unserer Studie die Beobachter so beeinflussen, dass sie eines von zwei Bildern erwarteten, und dieses Bild in der Folge vorwiegend wahrgenommen wurde; die Wahrnehmung des nicht erwarteten Bildes wurde dagegen unterdrückt. Allerdings waren individuelle Unterschiede feststellbar; worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind, und ob es einen Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozessen gibt, ist derzeit unbekannt.
Einige Autoren vermuten, dass bei grundlegenden visuellen Prozessen die gleichen “vorausschauenden” Verarbeitungsprozesse ablaufen wie bei komplexen Prozessen, bspw. wenn man versucht, Gedankengänge und Intentionen anderer Personen zu verstehen. Um diese Hypothese zu testen, untersuchten wir die vorausschauenden Verarbeitungsprozesse von Kindern (12-13 Jahre alt) und Erwachsenen (18-25 Jahre alt) in unterschiedlich anspruchsvollen Tests. Es stellte sich dabei heraus, dass Erwachsene bei komplexeren Wahrnehmungstests (manchmal auch “Theory of Mind” genannt) besser abschnitten als Kinder; bei grundlegenden visuellen Prozessen konnten wir hingegen keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen feststellen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich komplexe Fähigkeiten wie “Theory of Mind” auch noch vom Jugend- bis zum Erwachsenenalter weiter entwickeln. Der Einfluss von Erwartungshaltungen auf grundlegend visuelle Prozesse scheint hingegen bereits in einem früheren Alter voll ausgeprägt zu sein. Dies wiederum legt nahe, dass die verschiedenen Verarbeitungsprozesse auf unterschiedlichen Mechanismen beruhen.